Aura. Pendel. Kartenlegen. Wahrsagen. Das alles sind Begriffe, mit denen ich bisher kaum Berührungspunkte hatte und denen ich zugegebenermaßen skeptisch gegenüberstehe.
Für Übernatürliches, Spirituelles und Mystisches bin ich nur wenig empfänglich. Dafür denke ich zu rational. Dennoch finde ich mich an einem verregneten Donnerstagvormittag in der Wohnung einer Hellseherin wieder, ohne mich vorher groß mit ihrem Aufgabengebiet auseinandergesetzt zu haben. Meine Intention ist vielleicht nicht die richtige: Ich will sie testen. Will wissen, was sie über mich sagen kann. Was davon stimmt? Was könnte sie vielleicht nur geraten haben? Was könnte sie mit ihrer Menschenkenntniss von meiner Mimik abgelesen haben? Denn woher soll sie es schon wissen? Sie kennt mich nicht. Weiß nicht, dass ich meine Kollegin Julia Hammer zum Interview begleite. Gleichzeitig findet man über mich nichts Persönliches im Internet oder sonst wo. Während der drei Stunden, die wir bei ihr sind, versuche ich zudem, so wenig wie möglich über meine Gesichtsausdrücke preiszugeben. Versuche, ein verschlossenes Buch zu sein. Aber gelingt es mir? Oft ertappe ich mich dabei, wie ich schnell ihren eindringlichen, tiefen Blicken ausweiche, als würde ich nicht wollen, dass sie in meine Seele blickt. Glaube ich also doch daran?
Als ich zu neugierig werde, frage ich die Hellseherin Annatala Natalia Geiger, was sie bei mir sieht, was meine Aura über mich aussagt. Sie schaut mich an, schließt kurz ihre Augen und fragt wie alt ich bin. Dann beginnt sie zu erzählen, welche Aurafarbe sie sieht. „Ich sehe wenig rosa“, sagt sie. Das bedeutet, dass nur wenig Liebe in meinem Leben ist. „Ich sehe eine kürzliche Trennung von einer alten Liebe.“ Ich bin überrascht. Das trifft zu. Mit meinen goldenen Ringen an den Ringfingern und meinen 32 Jahren steht mir nun wirklich nicht auf die Stirn geschrieben, dass ich erst seit dem Frühling nicht mehr mit meinem Partner liiert bin, der mich zwölf Jahre lang begleitet hat. „Ihre Seele hat gelitten, aber seit zwei Wochen geht es ihnen wieder sehr gut. Es ist momentan nur noch vieles unruhig und durcheinander“, fährt sie fort. Dass nach einer Trennung die Seele verletzt und das Leben etwas durcheinander ist, ist klar. Und mir geht es schon etwas länger als zwei Wochen wieder gut, aber ich nehme ihre Aussage so hin – immer noch geschockt darüber, dass sie so aus mir lesen kann. Mit den Worten, dass die Liebe bald wiederkommen wird, versucht sie mich aufzumuntern: „Ich sehe auf der linken Herzseite in der Nähe der Schulter die Farbe Himbeere – das ist die Vorstufe von Liebe.“ Auch diese Äußerung nehme ich hin und habe zunächst keine weiteren Fragen an die Hellseherin. Über meine Zukunft möchte ich nichts erfahren, das lasse ich lieber alles auf mich zukommen und mich vom Schicksal überraschen.
Dann habe ich doch noch eine Frage: Was kann sie zu meinen Eltern sagen? „Sie werden noch lange Leben“, greift Annatala beruhigend vorweg. „Sie haben ein gutes Verhältnis zu ihnen, richtig?“ Ja, das habe ich. Vermutlich hätte ich mich sonst auch nicht nach ihnen erkundigt. „Ihrer Mutter stehen Sie noch näher.“ Ja, auch das ist korrekt. Sie sieht, dass einer der beiden starke Gelenkprobleme hat – der andere zwei Laster. Ich kann mir denken, von welchen Lastern die Rede ist und frage nicht weiter nach. Bei der Verabschiedung an der Tür schiebt sie nach: „Eines wollte ich Ihnen noch sagen. Schicken Sie Ihren Vater in den nächsten drei Monaten zum Arzt. Zum Internisten. Ich sehe sonst eine Störung“, sagt sie und zeigt auf den Herzbereich. Ich bin geschockt und überlege mir, wie ich meinen Papa davon überzeugen werde, zum Arzt zu gehen. Wie zu erwarten ist dieser genauso skeptisch wie ich, aber er verspricht mir, sich demnächst durchchecken zu lassen. Denn wenn einem schon einmal eine Hellseherin auf etwas hinweist, darf man das Schicksal nicht herausfordernd, oder?