Die Union für ihren Fünf-Punkte-Plan zur Verschärfung der Migrationspolitik eine Mehrheit bekommen. SPD und Grüne sehen darin einen Tabubruch. Die Entscheidung dürfte den Wahlkampf maßgeblich prägen.
Eine Woche nach der Messerattacke von Aschaffenburg hat der Bundestag wohl mit Zustimmung der AfD einem Unions-Antrag für einen harten Kurs in der Migrationspolitik zugestimmt. 348 Abgeordnete votierten nach Angaben der Sitzungsleitung für einen entsprechenden Antrag, 345 dagegen, zehn enthielten sich. Es gilt als praktisch sicher, dass die Mehrheit nur mit den Stimmen der AfD zustande gekommen ist. Das Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Abgeordneten wird aber erst später bekanntgegeben.
CDU und CSU haben nur 196 Sitze im Parlament. FDP und AfD hatten sich vor der Abstimmung für den Antrag ausgesprochen. Die AfD applaudierte nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses. SPD, Grüne und Linke hatten ein Nein angekündigt, das BSW eine Enthaltung.
Die Sitzung wurde nach der Abstimmung unterbrochen. Nach einem solchen Votum, dürfe man „nicht so einfach zur Tagesordnung“ übergehen, sagte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Die Union sei „aus der politischen Mitte dieses Hauses ausgebrochen“.
Der Antrag der Union sieht die Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen vor, ist anders als ein Gesetz rechtlich aber nicht bindend. Ein weiterer Antrag der Union zur Sicherheitspolitik wurde mehrheitlich zurückgewiesen. Vor der Abstimmung hatten sich Kanzler Olaf Scholz und Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz einen heftigen Schlagabtausch, vor allem über den Umgang mit der AfD, geliefert.
Der SPD-Kanzlerkandidat Scholz warf Merz vor, die klare Abgrenzung zu extrem rechten Parteien aufzugeben. „Sie nehmen die Unterstützung der AfD für Ihre rechtswidrigen Vorschläge offen in Kauf“, sagte er an die Adresse des Oppositionsführers in seiner Regierungserklärung.
Scholz mutmaßte auch, die Union könne nach der Wahl eine Koalition mit der AfD eingehen. Merz wies das in seiner Antwort auf den Kanzler als „niederträchtig“ und „infam“ zurück. „Ich werde alles tun, das zu verhindern.“ Der CDU-Chef bekräftigte dennoch, dass er für die Durchsetzung seiner Vorschläge zur Migration die Zustimmung der AfD in Kauf nimmt. Das sei ihm lieber, als „weiter ohnmächtig zuzusehen, wie die Menschen in unserem Land weiter bedroht, verletzt und ermordet“ werden.
Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel wandte sich sowohl gegen Scholz als auch gegen Merz. Die Regierungserklärung nannte sie „ungeheuerlich“ und warf Scholz „autoritäres“ Denken vor. „Das ist Demokratie ohne Volk, das ist Demokratie ohne Wähler“, sagte sie. Die Migrationspolitik der Regierung nannte sie einen „politisch motivierten Kontrollverlust“. Die sogenannte „Brandmauer“ gegen die AfD sei ein Hebel, um den Wählerwillen auszuschließen. Der Union warf Weidel vor, die Vorschläge zur Eindämmung der Migration von der AfD abgeschrieben zu haben. Als Sitzungsleiterin Katrin Göring-Eckardt verkündet, dass die Mehrheit für den Antrag zu den Zurückweisungen erreicht wurde, umarmen und beglückwünschen sich die Abgeordneten der AfD.
Das BSW kündigte in der Debatte an, sich bei der Abstimmung über den Unions-Antrag enthalten zu wollen. Darin heißt es: „Es gilt ein faktisches Einreiseverbot für Personen, die keine gültigen Einreisedokumente besitzen und die nicht unter die europäische Freizügigkeit fallen.“ Dies soll ausdrücklich auch für Menschen gelten, die in Deutschland einen Asylantrag stellen wollen. Wer vollziehbar ausreisepflichtig ist, soll in Haft genommen werden. Vorgesehen ist zudem eine größere Rolle der Bundespolizei bei Rückführungen.
Ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder sollen unbefristet so lange in Arrest kommen, bis sie freiwillig ausreisen oder die Abschiebung vollzogen werden kann. Gefordert werden auch dauerhafte Grenzkontrollen. Allerdings gibt es seit einigen Monaten auf Anordnung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ohnehin stationäre Kontrollen an allen deutschen Landgrenzen.
Ausgangspunkt für die aktuelle Migrationsdebatte war der Messerangriff von Aschaffenburg mit zwei Toten, der vor einer Woche den Bundestags-Wahlkampf komplett umkrempelte. Ein offenbar psychisch kranker Mann aus Afghanistan soll zwei Menschen getötet haben, darunter einen zweijährigen Jungen mit marokkanischen Wurzeln aus einer Kindergartengruppe, und weitere schwer verletzt haben. Der 28 Jahre alte Tatverdächtige war ausreisepflichtig.
Seitdem wird im Wahlkampf überwiegend über Migration und den Umgang mit der AfD gestritten. Die Union sieht sich durch den Fall in ihrer Forderung nach einer massiven Verschärfung des Vorgehens gegen irreguläre Migration bestärkt. Merz sagte im Bundestag, das sei man den Opfern schuldig. Die rot-grüne Minderheitsregierung sieht das Problem eher bei der Umsetzung der bestehenden Regeln durch die zuständigen Behörden. Sie hält die Vorschläge der Union für rechtswidrig.
Scholz sprach Merz die Regierungsfähigkeit ab, weil er Pläne vorlege, die dem Grundgesetz und dem EU-Recht widersprächen. „Es gibt Grenzen, die darf man als Staatsmann nicht überschreiten“, sagte er. „Politik in unserem Land ist doch kein Pokerspiel. Der Zusammenhalt Europas ist kein Spieleinsatz. Und ein deutscher Bundeskanzler darf kein Zocker sein. Denn er entscheidet im schlimmsten Fall über Krieg oder Frieden.“
Merz wies den Vorwurf der Rechtswidrigkeit klar zurück. Der EU-Vertragsartikel 72 eröffne dem nationalen Recht den Vorrang bei einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, sagte er. „Wie viele Kinder müssen noch Opfer solcher Gewalttaten werden, bevor sie auch der Meinung sind, dass es sich hier um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung handelt?“, fragte er. Zudem sei im Artikel 16a des Grundgesetzes ausdrücklich geregelt, dass sich nicht auf das Grundrecht auf Asyl berufen könne, wer aus einem EU-Mitgliedstaat oder einem Land einreise, in dem die Europäische Menschenrechtskonvention gelte.
Noch schärfer wurde der Schlagabtausch beim Thema AfD. Die Union toleriere die Unterstützung derer, „die unsere Demokratie bekämpfen, die unser vereintes Europa verachten, die das Klima in unserem Land seit Jahren immer weiter vergiften“, sagte Scholz. Dies sei ein „unverzeihlicher Fehler“. Seit Gründung der Bundesrepublik vor über 75 Jahren habe es immer einen klaren Konsens aller Demokraten gegeben, mit extremen Rechten nicht gemeinsame Sache zu machen, sagte Scholz. „Sie haben diesen Grundkonsens unserer Republik im Affekt aufgekündigt“, warf der Kanzler seinem Herausforderer vor.
Merz verwies darauf, dass alle Versuche, mit SPD und Grünen zu einem Konsens in der Migrationspolitik zu kommen, in den letzten drei Jahren gescheitert seien. Nun wolle er „aufrechten Ganges das tun, was unabweisbar in der Sache notwendig ist“. Dafür nehme er auch Bilder von jubelnden AfD-Abgeordneten in Kauf, auch wenn diese „unerträglich“ sein werden.
Vor Beginn der Debatte gedachten die Abgeordneten der Opfer von Aschaffenburg. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas mahnte eine faire Diskussion an. Unmittelbar vor der Abstimmung stellten sich die beiden großen Kirchen mit ungewöhnlich scharfen Worten gegen den Unions-Kurs. Die Fraktionen hätten sich mit der Auflösung der Ampel-Koalition verständigt, keine Abstimmungen herbeizuführen, in der die Stimmen der AfD ausschlaggebend seien, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Berliner Vertreter der katholischen Bischöfe und des Rats der Evangelischen Kirche. „Wir befürchten, dass die deutsche Demokratie massiven Schaden nimmt, wenn dieses politische Versprechen aufgegeben wird.“
Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov gibt es in der Bevölkerung durchaus größere Sympathien für ein Öffnen der Brandmauer zur AfD. Danach haben 22 Prozent der Befragten mit einer Kooperation in einzelnen Sachfragen kein Problem. Weitere 30 Prozent meinen, dass darüber hinaus sogar Regierungskoalitionen mit der AfD möglich sein sollten. Eine Minderheit von etwa 42 Prozent sprach sich in der Befragung grundsätzlich gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD aus.
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